Unsere Zugänge und Anfänge

Es war wohl um die Jahrtausendwende: Im „Alternativen Vorlesungsverzeichnis“ der Uni Halle gab es eine Filmvorführung. Das Werk hieß: „Pretty Cool System“, ein Film von der Berliner K.R.Ä.T.Z.E, einer Organisation, die sich selbst als Kinderrächtszänker bezeichnet.

Zu dieser Vorführung kamen genau zwei Menschen: eine Studentin und Ines Boban. Und das hatte Folgen. Im folgenden Semester fand ein erstes Seminar zum Thema statt (das war noch die Zeit vor Bologna), in dem wir mit Studierenden zu sondieren begannen, worum es bei Demokratischer Bildung geht. Und schnell waren wir bei Erfahrungsberichten aus Israel. Die klangen gleichzeitig so faszinierend und unrealistisch, dass einzelne Studierende meinten, dass wir uns das doch eigentlich mal in der Realität anschauen müssten, denn das könne doch gar nicht funktionieren: Jede*r bestimmt selbst, was er*sie wann, wie, wie intensiv, mit wem und wie lange lernen möchte. Geht es also um eine reine und zudem wahrscheinlich eher chaotische „Bock-Schule“? Oder - als zweite Seite der gleichen Medaille - um eine radikale kritische Rückmeldung an das öffentliche Schulwesen und seine Tendenzen zur institutionellen und didaktischen „Freiheitsberaubung“ (Boban & Hinz 2008a, 2012) und struktureller Gewalt? Wir waren massiv irritiert und herausgefordert, „outside the box“ zu denken (Boban & Kruschel 2015).

Und dann kam die European Democratic Education Conference (EUDEC) 2007 an der Universität Leipzig, wo wir u.a. Kolleg*innen aus Israel trafen. Sie fragten wir, ob sie sich vorstellen könnten, in einen Austausch von Studierenden und Dozierenden einzutreten. Und als ersten Schritt verabredeten wir, dass eine Gruppe Studierender aus Halle 2008 nach Israel fahren und danach ein Besuch einer israelischen Studierendengruppe in Deutschland folgen würde. Und wir trafen in dieser Zeit am Ende einer Tagung in Berlin auch Yaacov Hecht, damals Leiter des Institute for Democratic Education (IDE, eine NGO, angesiedelt am Kibbutzim College for Education in Tel Aviv, die größte Lehrer*innenbildungseinrichtung in Israel, gegründet am 01.09.1939), mit dem wir gern über unsere Ideen für eine Kooperation sprechen und die wir auch planen wollten. Es fiel uns während des Schlussplenums dieser Tagung auf, dass er sich meldete und seine - mittlerweile berühmten - Fragen stellte. Er höre so viel von ‚Demokratieprojekten‘ in Deutschland - was denn sei, wenn diese Projekte zu Ende seien, denn Projekte seien ja immer zeitlich begrenzt. Ob dann alles wieder wie vorher werde… Und uns bremste er zunächst etwas aus, indem er uns aufforderte, zunächst mal zu erzählen, wer wir denn seien, was wir bisher so gemacht hätten, und erst dann darüber, was wir vorhätten und was genau wir unter Inklusion verstünden - Langsamkeit als Chance…

Bis die Finanzierung funktionierte, dauerte es bis 2009, und dann fuhr tatsächlich am 30. Januar eine erste Hallenser Gruppe für zwei Wochen nach Israel - und kam umso faszinierter wieder zurück. Wir besuchten eine ganze Reihe von demokratischen Schulen, ließen uns am IDE in die Grundlagen Demokratischer Bildung einführen, genossen die landschaftlichen Schönheiten des Landes und waren gemeinsam ratlos, wie es auf der Basis der schwierigen Geschichte in diesem Land politisch weitergehen könnte. Und all dies erfolgte organisiert und begleitet durch eine etwa gleich große israelische Gruppe. Studierende fassten am Ende der Reise u. a. zwei entscheidende Ergebnisse dieser zwei Wochen zusammen: „Am Anfang waren wir zwei Gruppen, nun sind wir eine.“ Und: „Es ist so schön zu sehen, wie hier eine Hochzeit von inklusiver und demokratischer Bildung stattfindet.“ Was israelische Akteur*innen an demokratischer Bildung einbrachten, brachten deutsche an inklusiver Bildung ein (Boban, Kruschel & Wetzel 2012).

Auf diese erste Initialerfahrung folgten weitere Reisen, ab 2010 (einschließlich der weltweiten International Democratic Education Conference IDEC; vgl. Boban & Hinz 2010) alle zwei Jahre, ein Kooperationsvertrag zwischen dem Kibbutzim College for  Education in Tel Aviv und der Philosophischen Fakultät III - Erziehungswissenschaften der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und intensive Freundschaften und gegenseitige Besuche mit einigen Teilnehmenden. Nachdem wir selbst nun nicht mehr an der Uni Halle sind, geht dieser Kontakt weiter, so sind wieder regelmäßig Gruppen in Israel unterwegs.

Einige Studierende schrieben ihre Exalensarbeiten in diesem Themenbereich, von denen zusammenfassende Ausschnitte publiziert wurden (vgl. Boban, Eckmann & Hinz 2014). Ein Teil der Studierenden arbeitet inzwischen selbst in Demokratischen Schulen, andere versuchen, in staatlichen Schulen Schritte hin zu einer demokratischeren Kultur zu etablieren. Ein Prozess, der immer wieder labil ist und auch nicht frei von Krisen.

Unsere Sicht der Dinge hat sich im Laufe der Zeit deutlich verändert: Hielten wir ursprünglich Demokratische Bildung für ein Schlüsselelement der Inklusion, und das vor allem unter dem Aspekt von anerkennenden Strukturen (Boban & Hinz 2008b), haben wir mittlerweile gelernt, dass es bei Demokratischer Bildung nicht nur - und nicht einmal in erster Linie - um Strukturen geht, sondern ebenso wir bei Inklusiver Bildung auch um Kulturen und Praktiken (Boban 2011, Boban & Hinz 2019a, Kruschel, Boban, Ehnert & Hinz 2022). Immer wieder mal wurde schmunzelnd von israelischen Gesprächspartner*innen bemerkt, dass wir, die Mitteleuropäer*innen, so extrem auf die Strukturen abfahren würden, dabei sei doch klar, dass die vielen Regeln in demokratischen Schulen immer wieder sowieso geändert würden und die Strukturen gar nicht so entscheidend seien - und sowieso in jeder Schule anders. Ein demokratisches Selbstverständnis sei da viel wichtiger, und manche meinen, das Mentoring, also der regelmäßige Austausch zwischen einer*m heranwachsenden Lernenden und einem*r gewählten erwachsenen Gesprächspartner*in, sei das Herzstück Demokratischer Bildung, und ohne Mentoring sei Demokratische Bildung nicht Demokratische Bildung (Boban & Hinz 2019b, Simri & Hinz 2021). Das sehen allerdings beileibe nicht alle so - vielmehr gibt es eine deutliche Kontroverse, ob Mentoring zentral ist für demokratische Bildung sei oder bereits der Beginn adultistischer Übergriffigkeit…

Drum steht zwar immer noch Demokratische Bildung im Rahmen der Schlüsselelemente inklusiver Bildung (siehe hier), aber uns ist schon bewusst, dass sie so viel mehr ist. Daher gibt es nun einen eigenen Bereich für Demokratische Bildung auf dieser Seite (den wir weiter ausbauen). Wie eng beide Bereiche - Demokratische und Inklusive Bildung, z.B. über die Kinderrechte und die Theorie der Partnerschaftlichkeit von Riane Eisler (vgl. Eisler 2005, Eisler & Fry 2019, Boban & Hinz 2022) - miteinander verbunden sind, macht u.a. der von Robert Kruschel zu unserem Abschied von Halle 2017 herausgegebene Sammelband Menschenrechtsbasierte Bildung. Inklusive und Demokratische Lern- und Erfahrungswelten im Fokus deutlich.

Cover

Literatur

Boban, Ines, Eckmann, Theo & Hinz, Andreas (Hrsg.) (2014): Lernen durch Vielfalt. Variationen aus der sozialästhetischen und inklusiven Praxis: Demokratische Bildung, Kooperatives Lernen, Zukunftsplanung. Bochum/Freiburg: Projekt Verlag

Boban, Ines (2011): Das Leben ist vielfältig - die Schule wird es auch: Schritte zum pluralistischen Lernen in einer 'Schule für alle'. In: Mittendrin e.V. (Hrsg.): Eine Schule für alle. Inklusion umsetzen in der Sekundarstufe. Mühlheim: Verlag an der Ruhr, 13-20

Boban, Ines & Hinz, Andreas (2008a): „The inclusive classroom“ - Didaktik im Spannungsfeld von Lernprozesssteuerung und Freiheitsberaubung. In: Ziemen, Kerstin (Hrsg.): Reflexive Didaktik - Annäherungen an eine Schule für alle. Oberhausen: Athena, 71-98

Boban, Ines & Hinz, Andreas (2008b): Schlüsselelemente inklusiver Pädagogik. Orientierungen zur Beantwortung der Fragen des Index für Inklusion. In: Knauder, Hannelore, Feiner, Franz & Schaupp, Hubert (Hrsg.): Jede/r ist willkommen! Die inklusive Schule – theoretische Perspektiven und praktische Beispiele. Graz: Leykam, 53-65

Boban, Ines & Hinz, Andreas (2010): "The change begins with me - not with you" - Reflexionen zur IDEC 2010 in Israel. Unerzogen H.2, 28-32

Boban, Ines & Hinz, Andreas (2019a): Mentoring in Demokratischen Schulen - Lernbegleitung ohne Hierarchie. In: Bartusch, Steffen, Klektau, Claudia, Puhr, Kirsten, Simon, Toni, Teumer, Stephanie & Wei-dermann, Anne (Hrsg.): Lernprozesse begleiten. Anforderungen an pädagogische Institutionen und ihre Akteur*innen. Wiesbaden: Springer, 89-104

Boban, Ines & Hinz, Andreas (2019b): Zwischen Normalität und Diversität - Impulse aus der Perspektive Demokratischer Bildung. In: Stechow, Elisabeth von, Hackstein, Philipp, Müller, Kirsten, Esefeld, Marie & Klocke, Barbara (Hrsg.): Inklusion im Spannungsfeld von Normalität und Diversität. Band I: Grundfragen der Bildung und Erziehung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 101-113

Boban, Ines & Hinz, Andreas (2022):Inklusion und Partizipation: kritische Reflexion zweier leitender Konzepte bezüglich ihrer Vieldeutigkeit und Widersprüchlichkeit. Zeitschrift für Inklusion, 4/2022. URL: www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/article/view/610

Boban, Ines & Kruschel, Robert (2015): „Thinking outside the box“ - produktive Irritationen durch ein internationales Kooperationsprojekt. In: Schnell, Irmtraud (Hrsg.): Herausforderung Inklusion – Theoriebildung und Praxis. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 313-321

Boban, Ines, Kruschel, Robert & Tiedeken, Peter (2014): Mathetik - die für Inklusion bedeutsame Schwester der Didaktik. In: Bernhardt, Nora, Hauser, Mandy, Poppe, Frederik & Schuppener, Saskia (Hrsg.): Inklusion und Chancengleichheit. Diversity im Spiegel von Bildung und Didaktik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 187-192

Boban, Ines, Kruschel, Robert & Wetzel, Anja (2012): The Marriage of Inclusive and Democratic Education. In: Seitz, Simone, Finnern, Nina-Kathrin, Korff, Natascha & Scheidt, Katja (Hrsg.): Inklusiv gleich gerecht? Inklusion und Bildungsgerechtigkeit. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 174-179

Eisler, Riane (2005): Die Kinder von morgen. Die Grundlagen partnerschaftlicher Bildung. Freiamt: Arbor

Eisler, Riane & Fry, Douglas P. (2019): Nurturing Our Humanity. How Domination and Partnership Shape Our Brains, Lives, and Future. New York: Oxford University Press

Kruschel, Robert (Hrsg.) (2017): Menschenrechtsbasierte Pädagogik. Inklusive und Demokratische Lern- und Erfahrungswelten im Fokus. Bad Heilbrunn: Klinkhardt

Kruschel, Robert, Boban, Ines, Ehnert, Katrin & Hinz, Andreas (2022): Inklusion und Demokratische Bildung - Irritationen und Inspirationen zwischen zwei Diskursen und Praxisfeldern. In: Budnik, Ines, Grummt, Marek & Sallat, Stephan (Hrsg.): Sonderpädagogik - Rehabilitationspädagogik - Inklusionspädagogik: Hallesche Impulse für Disziplin und Profession. Beiheft 5 der Zeitschrift Sonderpädagogische Förderung heute. Weinheim/Basel: Beltz Juventa, 65-77

Simri, Dror & Hinz, Andreas (2021): Mentoring durch Dialog - Begleitung und Beratung von Schüler*innen in Demokratischen Schulen in Israel. Schule inklusiv 12, 39-41