Erfahrungen mit Bürgerzentrierter Zukunftsplanung

Auch wenn die Praxis in Deutschland noch keine sehr verbreitete ist, so können einige Beispiele die Tragfähigkeit dieses Konzeptes belegen.

Ein junger Mann mit Lernschwierigkeiten arbeitet in Frankfurt am Main seit einigen Jahren beim Hessischen Rundfunk als Gästebetreuer. Seine Aufgabe besteht darin, Interviewpartner am Eingangstor zu begrüßen, ihnen in einem Aufenthaltsraum Getränke und einen Imbiss anzubieten, sie zum Studio zu bringen und von dort wieder zum Ausgang zu bringen. Bei seiner Zukunftskonferenz in der Schlussphase seiner Gesamtschulzeit formuliert er deutlich: Er möchte in der Gastronomie arbeiten, sich aber nicht die Hände schmutzig machen. Genau in dieser Situation kommt einer anwesenden Sozialpädagogin aus dem Jugendzentrum die Idee, dass der Mann ihrer Freundin beim Hessischen Rundfunk arbeiten würde und sie den doch mal fragen könnte, ob dort ein Praktikum möglich sei.

Auch eine als lernbehindert eingestufte Schülerin einer Berliner Gesamtschule weiß bei ihrer Zukunftsplanung sehr genau, dass sie sich nicht mit ‚Drecksarbeit’ plagen, sondern vielmehr in einem ‚Palast mit einer großen Treppe und rotem Teppich, wie in einer alten Bank oder so!’ arbeiten will. Mit dieser grandiosen Idee ist die grundsätzliche Orientierung klar – inzwischen hat sie eine erfolgreiche Ausbildung in einem berühmten Museum der Stadt hinter sich, und zwar in dessen Café.
 

Weitere Beispiele für Zukunftsfeste, meist unter dem Aspekt des Übergangs von der Schule in das Erwachsenenleben im Umfeld der Integrationsbewegung, finden sich unter folgenden Links:

  • Sarah Heizmann hat nach ihrer Zeit in einer integrativen Waldorfschule und einer Qualifizierung am Theater bereits drei Zukunftsplanungen hinter sich. So berät sie sich immer wieder mit ihrem Unterstützerkreis, wie es beim Erwachsen-Werden weitergehen kann.
  • Zu mehreren Zukunftsfesten hat auch die Familie von Felix Kluge eingeladen, zum ersten Mal als er Schüler der dritten Grundschulklasse war. Erfahrungen aus diesem Prozess hat sein Vater Mathias (KLUGE 2007) dokumentiert .
  • Ein breites Spektrum von Erfahrungen mit ihrem Unterstützerkreis über viele hat auch die Familie Bros-Spähn mit ihrer Tochter Melanie. Ging es zunächst in ersten Zukunftskonferenzen um deren Zukunft in der allgemeinen Schule (vgl. BOBAN & HINZ 1999, BROS-SPÄHN 2007), erweiterte sich der Blick später auf ein ganzes Projekt, das seit 2013 in einer Wohngemeinschaft des Vereins IGLU in Ludwigshafen besteht (vgl. BROS-SPÄHN, HÖSCH & SPÄHN 2012, BROS-SPÄHN & SPÄHN 2013).

Diese Beispiele könnten die Idee nahelegen, dass Zukunftsplanung eine besondere Form der Planung für besondere Menschen sei – dem ist nicht so! Jeder Mensch, der vor „großen Fragen“ ohne einfache Antworten steht, kann sich durch ein Zukunftsfest oder eine andere Form der Zukunftsplanung inspirieren lassen und einen Unterstützer*innenkreis aufbauen. Die Beispiele machen aber deutlich, dass häufig Menschen mit Beeinträchtigungen Zukunftsplanung besonders nötig brauchen, wenn sie aus den bisherigen vorgeplanten institutionellen Bahnen aussteigen und ihren individuellen Ideen und Wünschen nachgehen wollen. Ein weiteres Beispiel ist Familie Willkomm in Hamburg, deren Tochter Emily ihre Schulzeit in der Grund- und Gesamtschule verbrachte und seitdem als Schauspielerin tätig ist; kurz vor ihrem 40. Geburtstag lud sie zu einem Zukunftsfest ein (vgl. BOBAN & HINZ 2021).

Erfahrungsberichte

BOBAN, Ines & HINZ, Andreas (2021): "Cool down!" - Zukunftsfeste als sanft beschwingte Zukunftsplanung. Partizipative Partnerschaftlichkeit und kollektives Mächtigsein. KIDS Hamburg aktuell Nr. 43, 60-66

BROS-SPÄHN, Bernadette (2007): Melanies Unterstützerkreis – Erfahrungen aus fünf Jahren. In: HINZ, Andreas (Hrsg.): Schwere Mehrfachbehinderung und Integration. Herausforderungen, Erfahrungen, Perspektiven. Marburg: Lebenshilfe, 181-187

BROS-SPÄHN, Bernadette, HÖSCH, Deborah & SPÄHN, Wolfgang (2012): Eine Wohngemeinschaft für behinderte und nichtbehinderte Menschen – konsequente Fortführung inklusiver Lebenswege. In: MAIER-MICHALITSCH, Nicola J. & GRUNICK, Gerhard (Hrsg.): Wohnen. Erwachsen werden und Zukunft gestalten mit schwerer Behinderung. Düsseldorf: Selbstbestimmtes leben, 183-190

BROS-SPÄHN, Bernadette & SPÄHN, Wolfgang (2013): Assistierte Autonomie einer erwachsenen jungen Frau mit schweren und mehrfachen Behinderungen – wie ist das möglich geworden? In: MAIER-MICHALITSCH, Nicola J. & GRUNICK, Gerhard (Hrsg.): Bildung und Arbeit von Erwachsenen mit schweren und mehrfachen Behinderungen. Düsseldorf: Selbstbestimmtes leben, 133-141

KLUGE, Mathias (2007): Felix – die Zukunft beginnt in der Grundschule, die Planung auch. In: HINZ, Andreas (Hrsg.): Schwere Mehrfachbehinderung und Integration. Herausforderungen, Erfahrungen, Perspektiven. Marburg: Lebenshilfe, 188-194